Gratwanderung am Morgen

Aufstehzeit: Ich streichle Isabella, gebe ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. Isabella wehrt ab und dreht sich um – alles normal, macht mein Großer auch. Aber auf einmal liegt ein tobendes, kleines Wesen im Bett, schreit und tritt um sich. Kurz in Ruhe lassen, in der Hoffnung, dass Isabella sich nicht reinsteigert. (Grat 1)

Die erste Frage von Isabella ist immer, was für diesen Tag ansteht. Der nächste Grat, je nachdem, ob ihr der Tagesplan zusagt oder nicht. Miro wartet sehnsüchtig vorm Bett…

„Was ziehe ich an?“ Wir fragen Alexa nach… Wie war das Wort? Ich flüstere „Wetter“. Isabella fragt: „AlexawiewirddasWetter“. Alexa versteht nicht. 2. Versuch, 3. Versuch… Der Druck steigt. „Mach Pausen zwischen den Wörtern“. „Mamaaa!“ (Grat 3)

Weiter geht es mit der Entscheidung, welcher Schlüppi (mit Vögeln drauf oder elsafarbener Schleife), welche Socken (Häschensocken oder mit Herzen drauf, pink oder weiß). Welches Oberteil: Kleid, Bluse, T-Shirt. Ist das Lieblingskleid gewaschen? Nein, gestern erst angehabt. Grat 4 – kurzer Eklat. Dann Umschwenken zur Bluse.

Jetzt kommt Rosella, Isabellas Kuscheltier, zum Einsatz. Bei ihr muss ich die Sachen kaufen. „Guten Morgen, Rosella!“, dann muss ich erklären, dass ich für meine Isabella Sachen brauche und was für heute geplant ist. Mit den Klamotten muss ich mich in eine gedachte Reihe stellen. Es dauert ein Weilchen, bis ich dran bin. Die Frage nach einer zweiten Kasse wird ignoriert. Im Gegenteil: Wenn ich Pech habe, kommt noch jemand von der anderen Seite.
Die Ware muss zusammengelegt und nacheinander auf das Kassenband gelegt werden. Isabella scannt jedes Teil, gibt es mir, dann muss die restliche Ware auf dem Band aufrücken. Immer bei der Sache bleiben! (Grat 5).

Fertig mit dem Einkauf: „Tschüss Rosella. Liebe Grüße an deine Mama Frieda und Nick.“ Jetzt schnell zu Isabella. Ich muss ihr den Einkauf detailliert wiedergeben – wenn es nach Isabella geht mehrfach. Der Blick auf die Uhr sagt, dass wir unbedingt weitermachen müssen. (Grat 6)

Alles ist vorbereitet, jetzt wird angezogen. Isabella will nicht, lümmelt sich in ihr Bett, beschäftigt sich mit Miro. Sanft in die richtige Richtung schubsen… „Hier ist dein Schlüppi.“ Ist es auch der richtige, den Isabella ausgesucht hat? Wie ist er richtig, wo ist hinten? Ok, sitzt. Weiter… „Isabella, hier ist die Hose. Gar nicht erst wieder ins Bett kuscheln…“ Wo ist hinten, wie komme ich in die Hosenbeine… Der Schlüppi kneift. „MAMAAA!“ Isabella wird sauer. Alles wieder runter, alles wieder rauf und nochmal. Wo sind bei den Socken schon wieder die Fersen? Es kneift an den Zehen. „MAMAAA! DU! SOFORT!“ Ich richte die Socken. „Ist es jetzt besser?“ (Grat 7) Beim Oberteil lässt sich Isabella dann helfen. Selbständigkeit ist anstrengend. „Kann ich dir gleich die Schuhe anziehen? Die Zeit wird langsam knapp.“ „NEIN.“ „Bitte!“ „Ja.“ „Danke, mein Schatz.“

Jetzt wird der Rucksack gepackt: Erst Brotbüchsen einpacken, dann das Tagebuch für die Betreuer. Der Blindenstock gehört nach links außen, die Teeflasche rechts außen. Wo ist der 2. Reißverschluss… Wieso geht er nicht zu? „MAMAAA!!!“ (Grat 8)

Die Tablette: „Wie lange muss ich die Tablette nehmen? Ich will nicht?“ Miro schaut schon aufmerksam. Isabella im Blick behalten, damit ich sehe, wo die Tablette hinfällt, falls sie ihr aus der Hand rutscht. Miro im Blick behalten, falls er losstürzt, um sie sich zu schnappen. Ich habe natürlich wieder keine Leckerlis zum Üben dabei. Dann nimmt Isabella die Tablette. Puh. Ein Handzucken: Isabella will trinken. Genau aufpassen, das Glas kippelt gefährlich in ihrer Hand. Aber erst zugreifen, wenn es kippt – Isabella mag keine Hilfe. Ist sie fertig mit Trinken schnell zupacken, bevor sie das Glas loslässt, sonst fangen wir wieder von vorn an. (Grat 9)

Die Frisur: Ein Zopf, 2 Zöpfe oder hochgesteckt? Pferdeschwanz, Elsa- oder Rapunzelzopf? Jetzt müssen wir nochmal klären, was heute ansteht und wer Isabella abholt. Dann wählt Isabella Haargummis und -schmuck aus: Schleife oder Blumen? Spangen? „MAMAAA! Warum tust du mir immer weh!“ Isabella reißt ihren Kopf weg. „SOLL ICH DIR AUCH MAL WEH TUN?“ Isabella greift nach meinen Haaren. „Nein. Entschuldige, ich wollte dir nicht weh tun.“ Mein Blick geht zur Uhr – ruhig bleiben. Nochmal von vorn. (Grat 10)

Wir sind fertig. „Jetzt kannst du Miro seine Leckerlis geben.“ 4 Leckerlis warten jeden Morgen als Belohnung auf beide, wenn alles geschafft ist. Isabella nimmt ein Stück auf die flache Hand. Miro wartet, bis Isabella „Klick“ sagt, dann holt er es. Isabella ist glücklich. Dann werden Hände gewaschen und wir gehen vor das Haus.

Rollator und Rucksack nach unten bringen, Isabella auf der Treppe stützen. Der Hund läuft allein – Miro sei Dank. „Wechselschritt, Mäuschen. Wir sind spät dran.“ „Du hast nicht BITTE GESAGT! DU, BABY, DU.“ „Du hast recht. Gehst du bitte im Wechselschritt?“ „DU HAST NICHT BITTE GESAGT!“ „Doch, jetzt schon.“ „MAMAAA!!!, DU, BABY, DU!“ Isabella läuft im Wechselschritt weiter. (Grat 11)

Wir sind unten: „Hier ist dein Rollator, ich halte dir die Tür auf.“ Miro wartet oben an der Treppe bis er ein Zeichen bekommt. Isabella stürmt derweil mit ihrem Rollator aus dem Haus, geradewegs ins Beet. „Halt. Zurück.“ Isabella reißt am Rollator. „Warte, ich helfe dir.“ Zurück auf dem Weg geht es weiter. Links abbiegen, leichter Kurve folgen… Ich habe die Hand am Rollator und lenke leicht. Hoffentlich merkt Isabella es nicht. (Grat 12)

„Guten Morgen“. Die Fahrerin steigt aus und packt den Rollator in den Bus. Ich stütze Isabella beim Einsteigen. Sie gurtet sich allein an und schaut besorgt, wo ihre Spucktüte ist. „Hier, mein Schatz.“ Isabella lächelt zufrieden. Ich bekomme ein Kuss. „Bis heute Nachmittag. Ich liebe Dich.“ Isabella strahlt.

Abfahrt. Geschafft.

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